Die Seenotrettungsübung, kurz SNRÜ, ist die einzige Pflichtveranstaltung auf einem Kreuzfahrtschiff, und zwar ausnahmslos für alle Passagiere: Behinderte, Familien mit kleinen Kindern, Stammgäste. Egal, wie oft Sie schon eine Kreuzfahrt gemacht haben, bei dieser Übung herrscht absolute Anwesenheitspflicht. Die Crew demonstriert, wie man die Rettungsweste richtig anlegt, wo sich die Trillerpfeife befindet, um auf sich aufmerksam machen zu können und wo das Signallicht ist, das bei Kontakt mit Salzwasser zu leuchten beginnt. Außerdem erfährt man, wie im Notfall die Evakuierung vonstatten geht. In die Rettungsboote einsteigen muss man bei der Übung allerdings nicht. Übrigens: Es gibt immer mehr Rettungswesten und Plätze in Rettungsbooten als Passagiere an Bord!
So läuft die Übung ab
Im Flugzeug verstaut man noch letzte Gepäckstücke, kramt sein Ipad hervor oder döst vor sich hin, während die Kabinencrew auf die Notausgänge deutet und die Sauerstoffmasken herzeigt. Nur hin und wieder sieht ein Passagier zu, und dann auch nur aus Höflichkeit. Bei der SNRÜ geht das nicht, hier müssen alle mitmachen.
Die Zeit für die SNRÜ erfährt man gleich beim Einchecken. Auch Offiziere und Kapitäne informieren die Passagiere. Spätestens sobald das Signal ertönt – sieben kurze und ein langer Ton – gehen alle Passagiere zu dem für sie vorgesehenen Sammelpunkt, den sogenannten Musterstationen. Welcher „sein“ Treffpunkt ist, steht auf dem Fluchtplan an der Kabinentür, auf der Schwimmweste und auf der Bordkarte. Auf dem Weg zur Sammelstation muss man übrigens die Treppen nehmen, die Aufzüge dürfen nicht mehr benutzt werden.
Je nach Reederei nimmt man die Schwimmwesten aus der Kabine mit oder bekommt sie von der Crew am Sammeelpunkt ausgehändigt. Die Crew hakt entweder jeden einzelnen Passagier auf einer Anwesenheitsliste ab oder scannt den Boarding Pass.
Schwänzen gibt’s nicht
Wer keine Lust auf die Übung hat, und sich in der Kabine verschanzt, hat Pech gehabt. Die Reedereien kennen bei der Seenotrettungsübung keinen Spaß. Die Crew überprüft alle Kabinen (auch die Badezimmer!) und markiert sie als „evakuiert“. Fehlende Passagiere werden per Lautsprecher prominent ausgerufen. Alle anderen müssen solange warten, bis die Unwilligen auftauchen – ganz schön peinlich. Und man macht sich sofort zum Staatsfeind Nummer Eins für Hunderte oder Tausende Mitreisende. Unbelehrbare, die sich dennoch weigern, mitzumachen, bekommen einen Brief an die Kabine geliefert. Sie müssen sich bei einem Offizier melden und die Übung privat alleine durchmachen – „nachsitzen“ sozusagen. Es kursieren Geschichten über so manch unwilligen Passagier, der im nächsten Hafen das Schiff verlassen musste oder Hausverbot bei seiner Reederei bekommen hat. Anderen wurden Landausflüge gestrichen. Die SNRÜ ist also nicht der beste Zeitpunkt, einen Aufstand zu üben.
Wie lange die Übung dauert, hängt also vor allem davon ab, wie engagiert alle Reisenden bei der Sache sind. In den meisten Fällen hat man es nach einer halben oder dreiviertel Stunde geschafft. Und mal ehrlich, so schlimm ist diese Übung ja nicht: Man fühlt sich für einen eventuellen Ernstfall gewappnet, gewinnt Vertrauen in die Crew, und man kommt leicht mit den Mitreisenden um einen herum ins Gespräch.
Aus der Vergangenheit lernen
Die Seenotrettungsübung ist international vorgeschrieben und soll die Sicherheit der Crew und der Passagiere gewährleisten. Sie wurde als Reaktion auf das bis heute schlimmste Schiffsunglück aller Zeiten eingeführt: Der Untergang der Titanic 1912. Die Übung muss während der ersten 24 Stunden auf See durchgeführt werden. Seit einigen Jahren findet sie aber meist schon vor dem Auslaufen statt. Die Havarie der Costa Concordia vor der italienischen Insel Giglio mit 32 Toten im Januar 2012 hat die Reedereien zum Umdenken bewogen. Die Costa Concordia kenterte innerhalb des gesetzlich vorgeschriebenen 24-Stunden-Zeitraums, ohne dass je eine Seenotrettungsübung stattgefunden hatte.
Wenn man die Seenotrettungsübung hinter sich gebracht hat, steht einem erholsamen und aufregenden Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff nichts mehr im Wege.